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RFC (Request for Comments): eine Publikationsreihe für zumeist technische Spezifikationen, aber auch Essays betreffend die Fortentwicklung der Internet-Infrastruktur
- bereits besprochen in STP035 anhand der Tradition der Aprilscherz-RFCs
- im Übrigen auch eines der anschaulichsten Beispiele für die ursprüngliche Intention von Hypertext: RFCs sind blanke Textdateien, die für die Darstellung als Webdokument automatisiert aufbereitet werden
- heute etwas ernster, aber hoffentlich ähnlich zugänglich anhand RFC 9518: "Centralization, Decentralization, and Internet Standards"
- wir folgen in unserer Besprechung des Themas der Struktur der Textgrundlage; deutschsprachige Zitate sind jeweils aus dem Englischen übersetzt
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Kernbegriff: "Zentralisierung [im Sinne dieses Dokumentes] ist eine Sachlage, bei der eine einzelne Entität oder eine kleine Gruppe eine Funktion des Internets überwachen, abfangen, kontrollieren oder aus ihrem Betrieb oder ihrer Benutzung Pacht ziehen kann."
- Die ersten drei Varianten (Überwachung, Abfangen, Kontrolle) sind die intuitiv klaren Formen von Zentralisierung (z.B. das Telefon-Festnetz ist zentralisiert, da es von einem einzigen Anbieter, der Telekom, betrieben und kontrolliert wird).
- Der Teil mit "Pacht" ist im Original "rent extraction", was im Englischen ein durchaus geläufiger Begriff ist, während im Deutschen der "Rentier" wahrscheinlich eher für einen Rentner gehalten wird.
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mögliche negative Konsequenzen von Zentralisierung
- Machtkonzentration (der RFC zitiert hier die Federalist Papers von 1788: "So wie [John Madison in denselben] Good Governance [(verantwortungsbewusste Regierungsführung)] der US-Staaten beschreibt, so erfordert Good Governance des Internets, dass Kontrolle über seine einzelnen Funktionen nicht ohne angemessene Gewaltenteilung an einer zentralen Stelle konsolidiert wird.")
- Begrenzung von Innovation: neue Entwicklungen brauchen Freiraum
- Begrenzung von Wettbewerb: Wettbewerb mehrerer kompatibler Anbieter oder mehrerer Protokolle schafft die vorgenannte Gewaltenteilung
- Verringerte Verfügbarkeit: Wenn alles durch einen zentralen Anbieter geht, führt ein Ausfall dort zu Folgeausfällen woanders.
- Greifbares Beispiel: Was passiert, wenn ein Stadtviertel über eine zentrale Glasfaserleitung angebunden ist und diese Glasfaser versehentlich aufgebaggert wird?
- Der RFC zitiert einige Beispiele.
- Xyrill hat eine Anekdote zu AWS und Minecraft.
- Monokultur
- Selbstverstärkung
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mögliche positive Konsequenzen von Zentralisierung
- Verständlichkeit, Zweckdienlichkeit
- zentrale Steuerung von DNS verleiht Domain-Namen eine hilfreiche Universalität
- z.B. bei IP-Adressen oder Telefonnummern ist derartig kontrollierte Universalität technisch notwendig
- Effizienz durch Skaleneffekte: siehe Besprechung von CDNs in STP024 (Cloud-Computing)
- Konzentration von Kontrolle kann Governance einfacher machen (was positiv sein kann, sofern man Governance an sich als grundsätzlich wünschenswert ansieht)
- Beispiel: Bankenregulierung
- Xyrill fügt noch hinzu: Zentralisierung kann die Weiterentwicklung von Protokollen vereinfachen, sofern Ossifikation entgegengewirkt werden muss
- Ossifikation: im Wortsinne "Verknöcherung", im übertragenen Sinne die faktische Unänderbarkeit von Protokollen, wenn eine Vielzahl von verschiedenen unabhängigen Akteuren die Änderung gleichzeitig vollziehen muss
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Ansätze zur aktiven Dezentralisierung
- Föderation: verschiedene Anbieter betreiben voneinander unabhängige Instanzen, die miteinander in Kontakt treten, um einen insgesamten Dienst zu bilden (klassisches Beispiel: E-Mail)
- alleine unzureichend, da nicht-technische Faktoren Zentralisierungsdruck erzeugen
- Beispiel E-Mail: wer einen E-Mail-Server betreiben will, muss faktisch nach der Pfeife von Microsoft/Google/United Internet/etc. tanzen, da Outlook und G-Mail den Markt dominieren
- Beispiel XMPP: nachdem einige wenige Betreiber in der Föderation groß geworden sind, haben sie sich vom föderierten Netz getrennt und ihre Nutzer effektiv eingesperrt (z.B. WhatsApp war früher XMPP-kompatibel)
- verteilter Konsens: Zusammenschluss aus vielen Teilnehmenden, bei denen die Ausübung von Macht innerhalb des Netzes zufällig und temporär zugewiesen wird (siehe Besprechung von Blockchain in STP048)
- "Während diese Maßnahmen darin wirkungsvoll sein können, den Betrieb eines Dienstes zu dezentralisieren, können andere Aspekte seiner Vorhaltung weiterhin zentralisiert sein: zum Beispiel die Kontrolle über das Design, die gemeinsam genutzte Implementation, sowie die Dokumentation von Netzwerkprotokollen."
- aktives Regierungshandeln ("Operational Governance"): Ausübung der operativen Kontrolle durch eine neutrale Treuhänderstelle, die die Interessen der verschiedenen Diensteanbietern und Nutzenden gegeneinander abwägt
- Einrichtung mitunter auch im Nachhinein möglich, sofern das technische, ökonomische oder politische Umfeld die Diensteanbieter zur Kooperation zwingt
- klassische Beispiele: ICANN für IP-Adressen, IANA für DNS, CA/Browser-Forum für Wurzel-Zertifikatsautoritäten (siehe STP048)
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Was können Autorinnen von Internet-Standards tun, um Zentralisierung vorzubeugen und Dezentralisierung zu fördern?
- Legitimität erzeugen
- durch Öffentlichkeitsarbeit gegenüber der Bevölkerung oder gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen Vertrauen schaffen, um dann die öffentliche Diskussion in die gewünschte Richtung zu beeinflussen
- Problem: mehr Geld kauft mehr PR
- Diskussion fokussieren
- nicht Zentralisierung als solches verteufeln (hat wie gesehen ja auch Vorteile), sondern explizit auf die Nachteile konzentrieren
- konkreter Vorschlag: RFCs sollten neben den Standardabschnitten "Sicherheitsrelevante Überlegungen" und "IANA-relevante Überlegungen" immer auch "Zentralisierungsrelevante Überlegungen" explizieren
- Abzielen auf proprietäre Dienste
- zentralisierte Angebote und Protokolle sollten aktiv mit offenen Standards konfrontiert werden
- Wechselkosten verringern
- z.B. neue offene Standards so gestalten, dass sie mit bestehenden proprietären Diensten interoperabel sein können
- selbst Open Source ist nicht immer die Lösung, wenn die Weiterentwicklung der Open-Source-Software die Expertise eines bestimmten Anbieters erfordert
- Delegation von Kontrolle bändigen
- Wenn ein Protokoll der Nutzerin ermöglicht, Aufgaben an einen Dritten zu delegieren, kann das eine Sollbruchstelle zur Machtkonzentration sein.
- Beispiel (im RFC erwähnt): HTTP-Proxies (ähnliches war auch bei HTTP auf der Internetanbieter-Ebene zu beobachten)
- starke Isolation durchsetzen
- Beispiel: viele Protokolle hängen von der Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit eines darunterliegenden Netzwerkes ab -> Verschlüsselung schützt gegen Machtkonzentration beim Betreiber dieser Basisschicht (schützt in diesem Beispiel nur vor Zentralisierung im Sinne von Überwachung, weniger im Sinne von Kontrolle)
- sorgfältige Abwägung von Erweiterbarkeit
- hilfreich, um Wettbewerb und Innovation zwischen verschiedenen Anbietern zu fördern
- aber auch Risiko des "Vendor Lock-In" (Erweiterung durch anbieterspezifische Funktionen, die Nutzerinnen an den Anbieter binden)
- wiederverwenden, was funktioniert
- z.B. hat DNS trotz aller Probleme alles in allem ein relativ dezentrales Design und eine relativ gute Governance -- tendenziell lieber darauf aufbauen, als eine eigene dezentrale Datenbank zu frickeln (oder
s/DNS/Ethereum/
, wenn man lieber Blockchain nehmen möchte)
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Xyrills Abendgedanken: (De-)Zentralisierung ist, so wie fast alle Fragen aus dem Feld der Netzpolitik, nicht eine rein technische Frage und erfordert neben technischen auch soziale und gesetzliche Lösungen